Kapitel 11 "Gloria"

Noch außer Atem stehen wir da und starren den groß gewachsenen Mann in Uniform an.
Holly zittert. Es beunruhigt mich nicht direkt, aber es wächst ein schlechtes Gefühl in mir, die Situation betreffend.
Moment. Hatte sie da 'Vater' gesagt?




Ich bin nun beunruhigt.

"Holly, was willst du hier? Hast wohl doch nicht genug von deinem schönen Leben hier?", er gestikuliert wild mit beiden Armen und grinst hämisch. Dreckskerl. Ich weiß nicht warum, aber er erinnert mich an...Nathan.
"Auch wenn du es nicht glaubst, ich bin nicht wegen dir hier!", faucht sie auf ihn ein.
"Hmh," er fährt sich über das unrasierte Kinn, "Das glaube ich dir nicht."
War irgendwie logisch. Eine schreiende junge Frau nimmt doch eh niemand ernst.
"Glaub was du willst, wir sind mit dem ersten Zug wieder weg..." Unruhe geht von ihrer Stimme aus.
Wenn ich doch bloß was tun könnte...Ich hätte den Krav Maga Kurs damals doch in Anspruch nehmen sollen. Ein tiefer Seufzer kommt in mir hoch.
Warum gibt es überall bloß Probleme, Leid und Zerstörung wo ich hingehe? Liegt es an mir? Sean...
"Soso? Mit dem ersten Zug? Pah, dass ich nicht lache! Und dann lungerst du wieder alle 4 Tage an diesem Bahnhof rum und jeder Kollege spricht mich drauf an. Weißt du eigentlich wie peinlich das ist, Holly?" Hollys Vater sieht nun nicht mehr so amüsiert aus wie zu Anfang.
"Es sollten dir andere Dinge viel peinlicher sein!" Ihre zarte Stimme hallt noch gefühlte Kilometer weit.
Dass ein niedliches und ausgesprochen hübsches Mädchen so ein böses Gesicht machen kann, hätte ich in meinen wildesten Fantasien nicht geahnt. Ihr ganzes Gesicht ist mit hasserfüllten und entstellenden Falten durchzogen. Was hat der Mann ihr getan?
"Schrei deinen Vater nicht an, junge Dame! Du kommst jetzt schön mit und - "
"Einen Teufel tu ich!", unterbricht sie ihn rasch. "Es ist schon schrecklich genug, dass Gloria nicht freiwillig mit mir mitkommt, dann will ich sie wenigstens etwas erleichtern..." Hollys Augen füllen sich mehr und mehr mit Tränen.
'Daddy' fängt lauthals das Lachen an. Ob er an einen guten Witz dachte? Mir fällt die ganze Zeit nämlich keiner ein.
"Weißt du auch warum sie nicht mit dir mitgeht?"
"Weil du sie ja soo sehr liebst nehme ich an." Hasserfüllter kann ein Satz gar nicht klingen.
"Den Humor hast du von deiner Mutter, aber nein, das ist es nicht." Hätte er keine Ohren, so könnte er nun im Kreis grinsen. Widerlich.
Er geht einen großen Schritt auf uns zu und Holly weicht sofort zurück. Eine kleine Parkanlange erstreckt sich hinter uns.
"Nun, es ist so...", eine dramaturgisch perfekte Pause untermalt folgenden Satz, "Ich habe ihr gesagt, wenn sie mit dir weglaufen sollte und ich euch finde, töte ich dich. So einfach war das."
Dreckschwein. Mistkerl. Widerling.
Mein Körper fängt ebenfalls zu zittern an, unaufhörlich.
"Du hast..was?!" Fassungslosikgeit spricht aus ihrem zarten Antlitz.
"Nanana, Töchterchen. Nicht beleidigt sein, Gloria hat nunmal mehr Reize vorzuzeigen als du und mal ehrlich...du machst am meisten Dreck."

Holly murmelt einen Satz vor sich hin, der sich anhört wie "Und ich tue das, damit du nicht verletzt wirst...".
Wie kommt sie grade ausgerechnet auf den Satz?
Dann geht alles ganz schnell.
Sie wuchtet ihren vollgepackten und schweren Rucksack hoch, macht einen riesen Satz nach Vorn, schwingt die Tasche hinter sich um mit voller Wucht diese seitlich gegen den Kopf ihres Vaters zu schleudern.
Er fiel um wie ein Sack Kartoffeln und ich starrte mit offenem Mund das Geschehen an.
Ein markerschütternder Schrei kommt aus ihr heraus, der mir Tränen in die Augen schießen lässt.
"Du Bastard, du dreckiger Hurensohn! Du...Du!", sie knickt ein und kniet auf dem Boden.
Nach ein paar Minuten, schätze ich, richtet sie sich auf. "Schnell, zu mir nach Hause. Wir nehmen Gloria mit."
Ohne zu antworten setzen wir uns in Bewegung.
Zehn Minuten Fußmarsch vergehen, ohne dass wir ein Wort sprechen und wir kommen in einer hübschen Straße mit vielen Bäumen an. Vorgarten reiht sich an Vorgarten und die Nummer 14 ist das Haus, vor dem wir stehen bleiben. Ein kleines Haus, aber sehr modern und ganz in weiß verputzt.
Immernoch zitternd kramt Holly in ihrem Rucksack und findet, nachdem sie 6 Stücke rausgeholt hatte, den begehrten Schlüssel. Wir hätten wohl keinen Schlüssel gebraucht, denn die Tür war nicht abgeschlossen.

Dunkelheit beseelt den Raum und sie schaltet direkt neben der Tür das Licht an.
"Gloria?", flüstert sie vorsichtig. Keine Antwort.
Ich höre sie noch "Sie muss aber da sein" murmeln und wir gehen die Treppe hinauf.
Holly geht sehr langsam voran, sodass ich beinahe bei jedem Schritt stolper.
Direkt geht sie in das zweite Zimmer auf der linken Seite. Vorsichtig öffnet sie die angelehnte Tür und erbricht sich.
Verstört frage ich mich, ob ich sehen will, was sie sieht und sehe erneut, wie sie bitterlich weint.
Zögernd wage ich einen Blick hinein in das Zimmer.
Ich sehe eine Kommode, aus der Kleidung ragt - vermutlich ein Schlafzimmer. Meinen Blick weiter schweifen lassend sehe ich das wohl Schrecklichste, was ich jemals sah.
Ein wohlgeformter Körper, vollends nackt liegt auf dem Bett. Ob das Mädchen schön war, kann ich nicht sagen, denn ihr Kopf ist zur Seite gedreht und weist ein riesiges Loch auf. Vermutlich hat sie sich in den Mund geschossen.
Das Zittern hat aufgehört, aber ich spüre noch, wie warme Flüssigkeit zwischen meinen Schenkeln hinabläuft.
Holly kriecht zu ihrer Schwester und watet durch ihr eigens Erbrochenes.
"...Gloria... steps out of the prison...Gloria...is no longer the wasted disco girl you've been dreaming about...", singt sie leise aber erkennbar in sich hinein.
Ich werde das Lied von Mando Diao wohl nun für immer hassen, aber was soll Holly erst sagen.

Einen Schritt torkel ich vorwärts als Holly panisch zu mir sieht. "Wer sind sie?!", keift sie in meine Richtung.
Grade als ich antworten will, wird alles schwarz und ich höre Holly meinen Namen schreien.
.