Sonntag, 18. November 2012

Kapitel 19: "Still"

Monate ist es nun schon her seit mein kleines Mädchen fort gegangen ist. Den wirklichen Grund dafür kann ich nur erahnen, denn meine Frau Dolores sagt nur, dass Carol sich nicht mit Nathan vertragen habe. Es soll wohl schon öfter Streit gegeben haben und es war wohl nur "eine Frage der Zeit", meint sie.
Sämtliche Fotos von meiner Kleinen - nein Großen - sind aus dem Haus verschwunden, es bleiben mir nur die Passbilder in meinem Portemonnaie auf denen sie mich verkniffen und missgelaunt anstarrt.

Ich weiß nicht, ob Dolores mich für dumm verkaufen will, aber es stimmt so Einiges nicht. Nathan und Carol verstanden sich doch, aus meiner Perspektive gesehen, ganz gut und sie verhielten sich sehr geschwisterlich am Tisch sowie auf allen Familienfesten. Er schien immer sehr bemüht sie überall einzubinden.
Mir fiel auch auf, dass Dolores nach Carols Flucht oft und viel geputzt hat. Kaum kam sie von ihrem Bürojob als Sekretärin Heim schnappte sie sich einen Putzeimer, diverse Putzmittel, Schwämme, Lappen und sogar einen Mundschutz. Und dann verschwanden die Fotos; was Nathan auch empörte, zumindest, wenn ich den Gesprächsfetzen richtig gedeutet hatte, als ich an dem Tag zur Tür reinkam.
"Es ist, als wolltest du mir Carol wegnehmen, das dulde ich nicht!", erklärte er lauthals vom oberen Stockwerk. Damit spricht er mir aus der Seele.
Nirgendwo sehe ich mein hübsches Mädchen mehr lächeln.
Zu ihrem Geburtstag da lächelte sie noch breit, quietschte vor Freude über ihre Geschenke und nur wenige - gefühlte - Momente später war sie fort. Ohne eine Notiz und ohne ein kleines Wort.

Die Krawatte öffnend setze ich mich an den Esszimmertisch, auf dem ihre Torte stand. Ein tiefer seufzer entfährt mir und ich höre wie eine Träne leise, aber hörbar auf dem mahagonifarbenem Tisch aufprallt.
Beschützen wollte ich sie. Damals, als meine Frau sie zur Welt brachte hechtete ich von der Arbeit ins Krankenhaus. Der Verkehr war das reinste Chaos, nur Idioten unterwegs und mein Job hat mich förmlich aufgefressen.
Und dann sah ich dieses kleine, zarte, schneeweiße Wunder, was noch nicht richtig die Augen öffnen konnte. Feuerrotes Haar wie die Mutter und ein starkes Stimmchen kamen mir entgegen.
Keine 5 Sekunden vergingen und ich wusste: Ich würde mein Leben für dich geben. Ohne ein Wimpernzucken.

Und jetzt, mein Mädchen? Was ist so schreckliches passiert, dass du es selbst mir nicht sagen konntest, dass du meintest, du müsstest fliehen um... ja, was eigentlich? Suchst du das Glück? Warst du unglücklich? Oh Carol...

Ein Tränenmeer liegt vor mir auf dem Holz, so groß, dass ich mich darin sehen kann. Zum nass werden genug, zum ertrinken zu wenig.
Meine Finger vergraben sich im Gesicht und meine Schluchzer werden lauter als ich will. Weinen schmerzt im Hals, denn dort sitzen Kreissägen, die einem den Hals in Stücke reißen.

Meine Brusttasche vibriert. Verdammt, das kann ja nur die Arbeit sein.
Wie ein Roboter stelle ich das Weinen ab und gehe mit einem gefassten "Ja?" trotz "Unbekanntem Teilnehmer" ran.
Ein leises Rauschen ist im Hintergrund zu vernehmen und ich gehe davon aus, dass man micht nicht gehört hat.
"Ja, bitte? Hallo?"
Mit zittriger Stimme wispert mir ein "Hi Dad" entgegen.
Das Herzklopfen, wie damals bei ihrer Geburt, setzt ein.
"Carol", flüstere ich, weil mir die Stimme abermals versiegt.
"Dad, ich muss es kurz machen. Sage bitte niemandem, dass ich angerufen habe, bitte! Das ist sehr wichtig". Ihr Tonfall ist äußerst ernst, obwohl sie leise spricht.
"Ist gut, Kleines. Ich bin grade alleine im Haus, niemand hört mich", versichere ich ihr.
Ein Seufzer, so als würde sie lächeln, raunzt in den Hörer, "Sehr gut. Ich wollte nur...also...Mir geht es gut und bitte mache dir keine Sorgen - ich weiß! Das ist leichter gesagt als getan, aber bitte vertraue mir. Ich komme zurück, wenn ich stärker geworden bin und mit mir besser klar komme. Ich liebe dich, Dad."
Besetztzeichen.
Wie in Trance lasse ich den Arm mit meinem Mobiltelefon sinken und auf den Tisch gleiten.
Als sie 7 war sagte sie mir das letzte Mal, dass sie mich liebt. Mein kleines Mädchen...ich hoffe du meldest dich bald wieder bei mir; aber vorher muss ich herausfinden, warum niemand von dem Anruf wissen darf.


Selbst wenn es nur wenige Sekunden waren, die es anhielt, bin ich froh, dass du die zehrende Stille gebrochen hast.
Erneut setzt der Schmerz im Hals ein, doch dieses Mal ergebe ich mich ihm ganz, beuge mich nach Vorn und küsse das Display meines Handys.









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